Wenn man den Raum „Atelier“ im Forum Wissen betritt, fällt sofort das einzige Ölgemälde an der Westwand ins Auge. Auf dem ziemlich düster wirkenden Gemälde ist eine männliche Figur außereuropäischer Herkunft zu sehen, die eine winterliche Zivilbeamtentracht mit einem Vogelmotiv aus der Qing-Dynastie (1644–1911) trägt. Die Figur ist im Bild nach links gewandt und blickt in die Ferne, während sie auf einem Bambusstuhl vor dunklem Hintergrund sitzt. In ihrer linken Hand hält sie eine langstielige Pfeife, ein Faltfächer liegt locker im Schoss. Dieses Porträt wurde um 1780 von Jens Juel (1745–1802) angefertigt, einem der berühmten dänischen Porträtmaler und Direktor der Königlich Dänischen Kunstakademie.
Die Handelsbeziehungen zwischen China und Dänemark im 18. Jahrhundert
Juels Gemälde entstand im 18. Jahrhundert, China und Dänemark ihre Handelsbeziehungen zueinander ausbauten. Zu dieser Zeit wurden nicht nur Exportgüter wie Porzellan, Lackwaren, Faltfächer und Möbelstücke von China nach Europa verschifft, sondern auch chinesische Matrosen, Händler und sogar Mandarine, also chinesische Zivilbeamte, hatten die Möglichkeit, mit Handelsschiffen ins Ausland zu fahren. Einerseits führte der Import chinesischer Waren dazu, dass ganz allgemein das Interesse an China in der europäischen Gesellschaft zunahm und der Kunstgeschmack durch die beliebten Chinoiserien beeinflusst wurde. Andererseits ermöglichte der Handel auch Begegnungen mit Menschen außereuropäischer Herkunft.
Dem Maler Juel ging es in seinem Porträt weniger darum, fantasievolle Darstellungen des fernen Osten hervorzuheben, sondern vielmehr um die Authentizität des Dargestellten und um die präzise Wiedergabe der Stofflichkeit der Mandarintracht. Mit anderen Worten, Juel strebte danach, das darzustellen, was er vor seinen Augen sah. Gleichzeitig war zu Juels Zeit das äußere Erscheinungsbild des von ihm porträtiertes Mannes in Mandarintracht ein weithin verbreitetes stereotypes Bild eines Chinesen, das leicht wiedererkennbar war.
Wie das Gemälde nach Göttingen gelangte
Nach Juels Tod fand im April 1803 im Schloss Charlottenborg in Kopenhagen eine Auktion statt, bei der sein Nachlass versteigert wurde. Im Rahmen dieser Auktion wurde das Göttinger Gemälde unter der Kategorie „Malerei in Ölfarben mit vergoldetem Rahmen“ mit dem Titel „ein Chinese in Mandarintracht, nach Natur von Juel“ (En Chineser i Mandarin-Dragt, efter Naturen, af Juel) im Versteigerungskatalog aufgeführt. Dieses Bildnis wurde durch die Vermittlung des Kopenhagener Stadtarztes Paul Scheel (1773–1811) vom Göttinger Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) für seine „Rassenforschung“ und für seine Lehrveranstaltungen erworben. Dadurch wurde das Gemälde aus dem Zusammenhang des internationalen Fernhandels herausgelöst und in einem anthropologischen Kontext neu eingeordnet. Das Gemälde diente also für Blumenbach als Anschauungsobjekt zur Verdeutlichung der angeblichen Unterschiede zwischen den fünf “Menschenvarietäten”.
Die mysteriöse Identität des Dargestellten
Bedauerlicherweise hat Juel keine Aufzeichnungen zur Identität des Porträtierten hinterlassen. Allerdings liefert die Korrespondenz zwischen Scheel und Blumenbach einen möglichen Hinweis darauf, wer die abgebildete Person sein könnte. Interessanterweise beschrieb Scheel den Dargestellten als „eine Art von Seemann oder Untersteuermann auf einem Chinafahrer gewesen […]”, welcher zum Teil mit Chinesen bemannt gewesen sei. Angeblich habe er diese Tracht selbst für sich anfertigen lassen und sei auch in Kopenhagen in dieser Bekleidung aufgetreten. Er habe Juel gekannt und sei von ihm zweimal gemalt worden. Einmal im Brustbild und das zweite Gemälde sei nun im Besitz Blumenbachs.“ Sehr ähnlich die Beschriftung, die Blumenbach auf der Rückseite des Gemäldes anbrachte: „Ein Chinese/ Untersteuermann auf einem Dä-/nischen Chinafahrer der zum Teil/ mit Chinesen bemannt war./ Nach dem Leben (aber in Manda-/ rinentracht gemahlt von dem/ grossen Porträtmahler/ Jens Juel zu Copenhagen.“
Bei den gefährlichen Seereisen von Dänemark nach China im 18. Jahrhundert, die etwa 18 bis 20 Monate dauerten, kam es oft zu unerwarteten Unfällen, die zum Tod europäischer Matrosen führen konnten. Aus diesem Grund wurden chinesische Matrosen auf dem Rückweg benötigt, um das verlorene Personal zu ersetzen. Falls der Dargestellte tatsächlich ein Matrose war, gehen die meisten Forschenden jedoch davon aus, dass die Mandarintracht nicht sein privates Eigentum war, sondern dass es sich vielmehr um Exportware aus China handelte. Einerseits entsprach die Tracht nicht seinem sozialen Status, das Tragen wäre sogar gesetzlich strafbar gewesen. Andererseits hätte sich ein Matrose jener Zeit eine solche Tracht finanziell gar nicht leisten können.
Der Name Quinquia
Im Jahr 2000 wurde eine neue Information über das Brustbild eines Chinesen von Juel bekannt, welches ebenso von Scheel in seinem Brief an Blumenbach erwähnt worden war. Gemäß der Aufschrift auf dem Brustbild eines Chinesen steht: „Der Chinese mit Namen Quinquia wurde 1786 von dem Faktor Stolle nach Kopenhagen gebracht / es gleicht [ihm] ausserordentlich. B. Holzförster, k.k. Gesandtschaftpriester ppmm Kopenhagen d. 10. Oct. 1789.“
Es bleibt unklar, von wem und wann dieser Hinweis hinterlassen wurde. Jedoch eröffnet der Name Quinquia eine alternative Hypothese zur Identität des von Juel porträtierten Mannes: Er könnte also ein Händler gewesen sein, genauer gesagt ein „Hang Shang“ (行商). Diese Annahme basiert auf drei Gründen: dem Namen Quinquia, der abgebildeten Tracht und Quinquias persönlichem Kontakt mit Jens Juel.
Im 18. Jahrhundert nannten europäische Händler chinesische Hang Shang häufig „Qua“ (官), um sie respektvoll anzusprechen. Die Ähnlichkeit dieses Ausdrucks mit dem Namen Quinquia legt nahe, dass „-quia“ eine ähnliche Bedeutung haben könnte. Jedoch kann es bei Übersetzungen zwischen verschiedenen Sprachen zu Variationen kommen, wodurch sich Wörter leicht ändern können. Zudem wird in verschiedenen Porträts von Hang Shang, wie zum Beispiel in den Bildern von Howqua und Mowqua, deutlich, dass die chinesischen Händler in der zeitgenössischen chinesischen Ämterhierarchie auf derselben Stufe standen wie andere offizielle Mandarine und ebenfalls Mandarintracht trugen.
Letztendlich unterhielten Hang Shang oft enge Beziehungen zu westlichen Händlern. Daher war es für sie auch möglich, mit westlichen Schiffen nach Europa zu reisen, ähnlich wie chinesische Matrosen. In diesem Fall wäre jedoch ein Vermittler erforderlich gewesen, um einen Kontakt zwischen Quinquia und Jens Juel herzustellen. Falls Quinquia ein Hang Shang war, ist es möglich, dass er von dänischen Händlern empfangen wurde. Da Juel ebenfalls enge Kontakte zur Dänischen Asien-Kompanie und ihren Mitgliedern unterhielt – viele von ihnen waren seine Auftraggeber – könnte man annehmen, dass Quinquia den dänischen Maler durch deren Vermittlung kennengelernt hatte. Dies würde auch erklären, warum Juel ein weiteres Porträt eines Chinesen, höchstwahrscheinlich derselben Person, nach seiner Fertigstellung an einen seiner Freunde, Jonas Eschemoës (1754–1798), und dessen Frau, Louise Ulricke Eschemoës (1751–1824), verschenkte
Zwischen Klischee und Wirklichkeit
Der Niedergang der Qing-Dynastie nach den Opiumkriegen um 1860 veränderte den europäischen Blick auf China grundlegend. Anstelle von Bewunderung und Neugier trat ein klischeehaftes Bild, das stark mit Opiumkonsum verbunden war. Ein deutliches Beispiel hierfür ist die langstielige Pfeife im Bild, die oft als Opiumpfeife interpretiert wurde, obwohl es sich tatsächlich um eine Tabakpfeife handelt. Diese veränderte Wahrnehmung führte zu Missverständnissen bei der Interpretation des Bildnisses, das aus dem Bestand der Kunstammlung der Uni Göttingen stammt. Obwohl Juels Porträt vor dem Hintergrund der Handelsbeziehungen zwischen China und Europa entstand, wurde es in einem Kontext interpretiert, der stark von zeitgenössischen Vorurteilen und historischen Ereignissen beeinflusst wurde.