MENSCH WIRD OBJEKT – Verhältnis von Kolonisatoren und Kolonisierten

Ein Beitrag von Fiona Hördt

Im Museum werden Objekte ausgestellt – zumindest erzählt es sich so. Was bedeutet es allerdings, wenn viele dieser „Objekte“ eigentlich Lebewesen waren? Was, wenn es sich um Menschen handelte?


Göttingens Sammlungen sind alt, sie tragen Geschichte in sich. Bei einem Gang durch das Forum Wissen wird das spürbar. Direkt zu Beginn der Basisausstellung, im ersten Raum „Perspektiven“, sind verschiedene menschliche Büsten zu sehen. Eine davon ist die Kopie einer Büste eines rangatira, eines politischen Oberhauptes des iwi (Stamm) Ngāi Tahu, der indigenen Gesellschaft der Māori aus Aotearoa (Neuseeland).

Sein Name war Takatahara. Die Büste ist Ergebnis einer Kopfabformung, die auf der neuseeländischen Südinsel und im Rahmen einer „Entdeckungsreise“ französischer Forscher Anfang des 19. Jahrhunderts angefertigt wurde. Sie wurde hundertfach kopiert und in einem rassifizierenden Forschungskontext in Museen und Sammlungen in Europa als „exemplarisches Modell“ der Māori ausgestellt. Dies diente unter anderem dazu, die hierarchisierende Einteilung der Menschheit in vermeintliche „Rassen“ zu untermauern.

Büste in einer VItrine von hinten fotografiert. Direkt zu Beginn der Basisausstellung im Forum Wissen, im ersten Raum „Perspektiven“, sind verschiedene menschliche Büsten zu sehen. Eine davon ist die Kopie einer Büste eines rangatira, eines politischen Oberhauptes des iwi (Stamm) Ngāi Tahu, der indigenen Gesellschaft der Māori aus Aotearoa (Neuseeland).
Forum Wissen, Perspektiven | © Ava Lord

Die Nachbildung des Kopfes eines einst lebendigen Mannes wurde also zum Forschungsobjekt und zum Teil einer Sammlung . Wie solche Büsten in Sammlungen und Museen gekommen sind, warum sie überhaupt erschaffen wurden und unter welchen Bedingungen, sind Fragen, denen nachgegangen werden muss, die aber häufig ungeklärt bleiben.

Forum Wissen, ‚Perspektiven‘ | © Martin Liebetruth

Aneignung von Wissen


Im Rahmen zahlreicher Expeditionen wurden nicht nur Objekte geraubt, sondern auch nicht-materielle Dinge. Zum Beispiel indigenes Wissen, ohne das viele solcher Reisen gar nicht möglich gewesen wären. Die Kolonisatoren eigneten sich dieses Wissen an und beanspruchten es später als ihr eigenes. Sicher ist jedoch, dass in vielen Fällen Wissen, welches später als europäisch, modern und wissenschaftlich geframet wurde, schon vor der Kolonisierung in den Herkunftsgesellschaften existiert hatte.

Im Raum „Feld“ der Basisausstellung wird dies sichtbar. Hier wird unter anderem die Geschichte des Kriegsgefangenen Shahdad Khan aus dem heutigen Pakistan im Ersten Weltkrieg erzählt. Ein Göttinger Sprachforscher, Friedrich Carl Andreas, führte an ihm sowie an vier weiteren ehemaligen Kolonialsoldaten Sprachforschungen durch. Das Material umfasst Liedtexte, Wortlisten, Regeln zu Aussprache und Grammatik. Er ließ die Inhaftierten aus einem Kriegsgefangenenlager Berlin in ein Lager zu sich nach Göttingen verlegen und benutzte sie für seine wissenschaftliche Karriere.

Mensch statt Objekt

Doch selbst in einer solchen Situation, die von einem eindeutigen Machtverhältnis bestimmt wird, können „Opfer“ ihre eigene Handlungsmacht oder „agency“ behalten. Shahdad Khan entschied sich bewusst für eine Zusammenarbeit mit Andreas, da er mehrere Sprachen beherrschte und selbst interessiert an der deutschen Sprache war, wie ein Brief eines Mitgefangenen suggeriert. Diese Selbstbestimmtheit muss anerkannt werden, um zu vermeiden, dass die Kriegsgefangenen viktimisiert werden. Auffällig ist, dass letztendlich immer die Namen der männlichen europäischen Forscher bekannt werden und nicht die der Beteiligten aus den Herkunftsgesellschaften. Shahdad Khan wurde lediglich die Rolle eines „Vermittlers“ zugeschrieben.

Forum Wissen, Ausstellungsraum ‚Feld‘ | © Martin Liebetruth


Das Verhältnis von Beforschten und Forschenden, von Objekt und Subjekt, von Kolonisierten und Kolonisatoren ist auch Teil meines Faches der Kulturanthropologie. Auch ich habe im Rahmen einer Feldforschung schon Menschen zu Forschungsobjekten gemacht. Zwar ist der Umgang heute deutlich sensibilisierter als er es beispielsweise unter Ethnolog*innen im 19. Jahrhundert war. Jedoch bleibt das Feld ein Ort der Ambivalenz und der Spannung, welcher stets im Wandel bleiben und hinterfragt werden sollte.

Das Foto zeigt einen Blick in den Raum 'Feld' im Forum Wissen
Forum Wissen, Ausstellungsraum ‚Feld‘ | © Martin Liebetruth

Reflexion als Teil der Forschung


In diesem Sinne muss auch die Vergangenheit betrachtet werden. Denn das koloniale Erbe, das durch die „Expeditionen“ und „Forschungsinteressen“ vieler Europäer seit dem 15. Jahrhundert in die Sammlungen getragen wurde, ragt bis weit in die Gegenwart. Museen und andere öffentliche Institutionen tragen Verantwortung, die Spuren dieses Erbes sichtbar zu machen und kritisch zu beleuchten. Es ist essenziell, die Geschichten der Nicht-Gesehenen zu erzählen.

Quellen der Recherche sind der Audioguide aus den Forum Wissen Audio Walks „Wissenschaft und Kolonialismus“, der Artikel „Takatahara. Facetten einer anthropologischen Maori-Büste aus kolonialen Kontexten“ von Veronika Tocha aus dem Katalog „Räume des Wissens“ sowie der Text zur Ausstellung „Stimmen. Sprachforschung im Krieg, 1917-1918“ im Archiv der Website des Forum Wissen (https://www.forum-wissen.de/sonderausstellungen/stimmen-sprachforschung-im-krieg1917-1918-2/).

Redaktion: Fiona Hördt hat im Oktober 2025 ein Praktikum im Forum Wissen absolviert.


Forum Wissen, Ausstellungsraum ‚Perspektiven‘ | © Martin Liebetruth