Der dänische Autor Hans Christian Andersen (1805-1875) ist für seine Märchen weltweit bekannt. Jede:r von uns hat schon mal von der Kleinen Meerjungfrau oder der Eiskönigin gehört, ob als Gute-Nacht-Geschichte oder in der Disney-Verfilmung. Neben Die Prinzessin auf der Erbse, Das hässliche Entlein und Des Kaisers neue Kleider, findet sich im Œuvre Andersens auch ein ganz besonderes Werk: Das Bilderbuch ohne Bilder.
Die hier zusehenden „Blickspaziergänge“ führen durch drei ausgewählte Geschichten aus dem Buch des dänischen Autors, das insgesamt 33 Erzählungen umfasst. Die ersten 20 Texte erschienen an Weihnachten 1839, die restlichen wurden in den laufenden neun Jahren veröffentlicht. Vor allem in Deutschland erfreute sich das Werk großer Beliebtheit.

Der Titel des Werkes ist sprechend: denn eigentlich haben die Geschichten keine Bilder! Andersen wollte, dass die Lesenden sich die beschriebende Welt selbst imaginieren.
Doch wenn es ein Bilderbuch ohne Bilder ist, woher stammen dann die hier zu sehenden Graphiken? Sie wurden vom Göttinger Künstler und Kunstgeschichtsprofessor Carl Friedrich Oesterley (1805-1891) in den 1840er Jahren erstellt. Die Kunstsammlung der Universität besitzt verschiedene Zeichnungen und Graphiken, die den Schaffungsprozess von Oesterleys Bebilderung zeigen. Neben einigen Entwürfen und Vorzeichnungen unterschiedlichster Werkphasen, finden sich auch vier Radierungen.
Da Oesterley an der Visualisierung der Geschichten arbeitete, entgegen der Intention des Urhebers Andersen, kommen doch einige Fragen auf: Sollte es sich bei Oesterleys Werk um ein eigenständiges Bilderbuch handeln ohne Text oder sollten die Bilder die Geschichten Andersens begleiten? Wusste Andersen von den textbegleitenden Abbildungen? Und wer gab den Auftrag dazu? ———–

Am Anfang des Bilderbuchs ohne Bilder wird in die Rahmenhandlung eingeführt. Der Ich-Erzähler ist Künstler, der nachts vom Mond besucht wird. Dieser erzählt ihm von seinen Reisen um die Welt, dabei springen die einzelnen Erzählungen in Raum und Zeit. Es gibt keine feste Route oder stringente Abläufe, der Erzähler gibt die Ereignisse so wieder, wie er sie an den 33 aufeinanderfolgenden Tagen vom Mond gehört hat.
Der Künstler kann nicht in Worte ausdrücken, was ihm vom Mond berichtet wird, was er selbst sieht und fühlt. „[…] ich kann es nicht so wiedergeben, nicht so aussprechen, wie es in mir lebendig ist; und doch bin ich Maler, das sagt mir mein Auge, das haben alle anerkannt, welche meine Skizzen und Bilder sahen.“ Und weiter heißt es: „[…] was ich zeige, sind nur flüchtige Umrisse auf dem Papier und dazwischen meine eignen Gedanken […].“ Und doch gibt Andersen die Geschichten so wieder, wie es der Ich-Erzähler nicht kann: mit Worten und ohne Bilder. Ein interessantes Spiel auf verschiedenen Metaebenen, nimmt man Oesterley noch hinzu, der die geschriebenen Worte Andersens wiederum als Skizzen und Bilder wiedergibt.

Die einzelnen Beobachtungen des Mondes zeigen die Welt in unverschönter Sicht: Zwischen lustigen Anekdoten und Liebesgeschichten werden auch Depression, Krankheit und der Tod thematisiert. Es handelt sich beim Bilderbuch ohne Bilder eben nicht um Gute-Nacht-Geschichten, sondern viel mehr um die Abbildung der Welt mit all seinen glücklichen und traurigen Augenblicken.
Zur Lektüre der anderen 30 Geschichten und für eine ausführliche Auseinandersetzung mit ihnen, empfehle ich Heinrich Deterings Übersetzung und Kommentar zum Bilderbuch ohne Bilder. Gedichte in Prosa, erschienen 2009 im Reclam Verlag. (Heinrich Detering ist Professor am Deutschen Seminar der Universität Göttingen)

Quellen:
Geschichte 1: https://www.projekt-gutenberg.org/andersen/bilderbu/chap002.html
Geschichte 2: https://www.projekt-gutenberg.org/andersen/bilderbu/chap016.html
Geschichte 3: https://www.projekt-gutenberg.org/andersen/bilderbu/chap018.html
Zitat: https://www.projekt-gutenberg.org/andersen/bilderbu/chap001.html